Dessau, 16.08.2002, von Ralf Bruns

Hochwassereinsatz in Dessau

Was hätte man von den Helfern des OV Wanne-Eickel wohl erfahren, wenn man Sie vor dem 16.08.2002 gefragt hätte, was sie mit diesem Namen verbinden? Dass es sich um eine Stadt im Osten Deutschlands handelt werden sie wohl alle gewusst haben. Das sich Dessau in Sachsen-Anhalt befindet, wussten wahrscheinlich schon weniger. Das Dessau an der Elbe liegt und dass es dort einen Fluss namens Mulde gibt hat vermutlich kaum einer gewusst.

Jetzt kennen die Wanne-Eickeler Helfer mehr von Dessau. Sie kennen die Ortsteile Waldersee und Mildensee. Die Grundschule am Schafstritt und das E-Center. Die BP Tankstelle an der B185 und die städtischen Kliniken Dessau. Und vor allem haben Sie die Einwohner von Dessau kennen gelernt. Menschen die um ihre Existenz kämpfen. Menschen die zusammen halten um das nahezu unabwendbare zu bekämpfen. Menschen die dankbar für jede Hilfe sind. Und die Wanne-Eickeler können stolz darauf sein, einen Teil dieser Hilfe geleistet zu haben.
 
Schon mehrere Tage konnte man in den Medien Berichte über die Flut verfolgen, die, entlang der Elbe aus Tschechien kommend, über Deutschland hereinbrach. Es waren Bilder von großen Zerstörungen an Häusern und Natur.
Am 15.08.02 bereits fanden sich mehrere Helfer außer der Reihe im Ortsverband ein, um die Ausstattung zu überprüfen und die Einsatzfähigkeit aller Fahrzeuge und Geräte sicher zu stellen. Akute Veranlassung gab es dafür nicht. Nur dieses Gefühl im Magen.

Gegen 00:00 Uhr am 16.08.02 änderte sich das. Die Fachgruppe Wasserschaden/Pumpen des Ortsverbandes Bochum rückte nach Dresden aus und forderte eine Netzersatzanlage 40 kVA mit Maschinist in Wanne-Eickel an. Ulrich Nagel, Gruppenführer der Fachgruppe Infrastruktur machte sich umgehend einsatzbereit und wurde von Kay Volmer und Ralf Bruns mit dem angeforderten Aggregat zum Ortsverband Bochum gebracht und verabschiedet.

Gegen 07:00 Uhr klingelte das Telefon wieder: „Einsatz für einen Technischen Zug ohne Fachgruppe“ lautete die Anforderung. Wochentags, Haupturlaubszeit, Berufsverkehr - die ungünstigste Zeit für eine Alarmierung. Daher Vollalarmierung des gesamten Ortsverbandes um in kürzester Zeit genug Helfer zusammen zu bekommen.
Aufgeregte Arbeitgeber meldeten sich bei Ortsbeauftragtem und Zugführer. Verständnisvoll meist, jedoch auch sorgenvoll. Handwerksbetriebe zum Beispiel, bei denen zwei der drei Beschäftigten dem THW angehören. Schnell mussten Lösungen gefunden werden. Reisetaschen wurden auf Einsatzfahrzeuge verladen, zusätzliche Ausstattung auf den Unimog verlastet. Anschließend erfolgte eine Einweisung in die Lage durch den Ortsbeauftragten Aimo Glaser.

10:45 Uhr: Abfahrt. Vier Fahrzeuge und 21 Mann befanden sich auf dem Weg nach Dessau.Die genaue Aufgabe war noch ungewiss. „Unterstützung der örtlichen Kräfte“ hieß es.

Nach ca. 450 km Fahrt waren sie so um 18:00 Uhr vor Ort. Wurden von einem Lotsenfahrzeug der Feuerwehr zum Katastrophenstab geführt. Von dort aus fuhr der Wanne-Eickeler Verband zur Einsatzleitung im Stadtteil Waldersee. Die befand sich in einer Grundschule. Sie bekamen einen Klassenraum als Unterkunft zugewiesen. Feldbetten gab es keine. Verpflegung zunächst auch nicht. Dafür den ersten Einsatzauftrag: „Schwedendamm“ hieß die Einsatzstelle. „Ausleuchten und Deichsicherung gemäß Anweisung der Feuerwehr vor Ort“ die Aufgabe.

Kurze Zeit später befanden sie sich das erste Mal am Deich. Standen in einer Kette mit Anwohnern, Feuerwehrleuten, anderen THW-Ortsverbänden und Bundeswehrsoldaten. Und schon bald wurden Sandsäcke verlegt und weitergereicht, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Bis gegen 03:30 Uhr zogen sich die Arbeiten hin. Um 04:00 Uhr konnten sie dann schlafen gehen. Feldbetten fehlten zu dem Zeitpunkt immer noch. Genauso wie die Verpflegung. Trotzdem schliefen alle wie die Murmeltiere.

Am nächsten Tag, dem 17.08.02 ging es weiter. Wieder Schwedendamm, wieder Sandsäcke. Es herrschten Temperaturen um die 30° Celsius. Zum Glück gab es genug Trinkwasser. Vor allem ein Deichfuß musste gesichert werden. Hier sickerte bereits Wasser durch. Mittags kam dann auch die Verpflegung. Sogar zweimal. Diese Schicht ging bis ca. 21:00 Uhr. Feuerwehrleute machten in der Nacht weiter.

Am 18.08.2002 gab es etwas neues: Einsatzabschnitt 4. Unterstützung der Fachgruppe Wassergefahren aus Bad Wildungen. Aufgabe war das Verladen von Sandsäcken auf Pontons und Boote, Mitfahren und Entladen an der Einbaustelle. Zusätzlich betrieben die Wanne-Eickeler mit ihrem MTW die Führungsstelle im Einsatzabschnitt 4. Um 11:15 kam dann über Funk die Meldung, die keiner hören wollte: „Deichbruch am Schwedendamm“. Dort wo die letzten zwei Tage so viel Arbeit investiert wurde.
       
Die kurz zuvor zur Verstärkung eingetroffene Feuerwehr aus Ulrichstein rückte ab. Kurz darauf kam auch die Anweisung der Einsatzleitung zum geordneten Rückzug für alle THW-Kräfte. Alle Einheiten fuhren zunächst aus Waldersee heraus. Die Helfer jedoch wurden anschließend im Pendelverkehr wieder in das Schadensgebiet gebracht. Mit einem Notdeich auf der Dessauer und Rhesener Straße sollte versucht werden das Wasser zurückzuhalten. Die verschiedenen Züge des THW verteilten sich auf den Straßen. Die Sandsäcke kamen und wurden sofort verbaut. Drei Reihen hoch sollte der Deich zunächst werden. Doch mit steigendem Wasserspiegel wuchs auch der Deich höher. Alle Einwohner halfen mit. Die Häuser zwischen Notdeich und Schwedendamm waren praktisch bereits aufgegeben worden. Trotzdem halfen deren Bewohner mit, die Häuser ihrer Nachbarn auf der anderen Straßenseite zu schützen. Mit Tränen in den Augen schufteten sie bis zur Erschöpfung. Seite an Seite mit Feuerwehr, Bundeswehr, zivilen Helfern und dem THW.
                
Eine Pumpe für das Sickerwasser auf der Straße wurde nachgefordert. Ausrichten konnte sie nicht wirklich viel. Aber sie beruhigte alle ein wenig. Auch an der Pumpe war das Ansteigen des Wasserspiegels zu sehen. Längst schon reichte ihre Kapazität nicht mehr aus. Vermesser kamen durch und erklärten allen Kräften, der Notdeich müsse noch um 1,20m aufgestockt werden. Nüchtern betrachtet ein aussichtsloses Unterfangen. Aufgeben wollte trotzdem niemand. Mit schwerem Gerät wurde zur Stärkung der schwachen Sandsackverbaue Schotter herangeschafft. Bäume wurden gefällt, damit die Fahrzeuge überhaupt durchkommen konnten. Und dann geschah das Unglück. Der Notdeich brach vor den Augen der Wanne-Eickeler Helfer. Das Wasser strömte nach Waldersee. Alle Hilfskräfte waren auf der Flucht.
       
Am ersten höhergelegenen Punkt: Sammeln, Durchzählen, Durchatmen. Nachfrage über Funk: Kraftfahrer Ralf Schmitz war bereits auf dem Weg  nach Waldersee. Da im Fahrzeug  zu wenig Platz war, stiegen die Helfer aufs Fahrzeugdach. Die Wanne-Eickeler verließen Waldersee. Enttäuscht wegen des verlorenen Kampfes und froh, das alle unversehrt waren fuhr das vollbeladene Fahrzeug zur Sammelstelle.

Der nächste Meldekopf wurde gesucht. Eine Unterkunft in der Sporthalle der Schule am Schafstritt wurde bezogen, Betten herangeschafft. Um 02:30 konnten alle schlafen gehen.
Bis 12:00 Uhr sollten sie schlafen dürfen, hatte die Einsatzleitung versprochen.19.08.02, 08:00 Uhr: Wecken durch die Einsatzleitung. Die Sporthalle sollte geräumt werden. Kurz nach der Räumung dann Entwarnung. Die Wanne-Eickeler durften bleiben.
       
Nach technischem Dienst an den Fahrzeugen um 13:00 Uhr der nächste Auftrag: Einsatzgebiet Mildensee, Ablösung des Ortsverbandes Gerolzhofen. Wieder Deichfußsicherung mit Sandsäcken. Der Antransport der Sandsäcke war jedoch diesmal sehr schwierig. Die Säcke kamen vor allem per Boot von der Wasserseite und aus der Luft per Bundeswehr-Hubschrauber. Spektakulär zwar, aber nicht effektiv. Trotzdem, um 02:30 Uhr war die gestellte Aufgabe erfüllt, der Deichfuß gesichert. Feierabend.

Der 20.08.02 war ruhig. Der gesamte Ortsverband war in Bereitschaft, hatte jedoch keine akuten Einsatzaufträge. Böse war darüber keiner. Die Ruhe tat gut. Es war ein wenig Zeit für Kameradschaft, Kartenspielen oder Lesen.

Am 21.08.02 Einsatz an der Kläranlage, direkt an der Elbe. Wie eine mittelalterliche Burg sieht die Festung aus mannshohen Sandsäcken in mehreren Reihen bereits aus. Auftrag: Errichtung eines Sandsackverbaus um die Regenrückhaltebecken. Starkregen war angekündigt worden. Das Wasser sollte nicht in die Fäkalbecken laufen.

Die Aufgabe wurde zügig und zur Zufriedenheit der Einsatzleitung erledigt. 150 Helfer waren hier zeitgleich im Einsatz.

Der 22.08.02 brachte zunächst einen Einsatzauftrag für den Unimog. Im Ortsteil Waldersee sollte Technik zur Ölbekämpfung durch die überfluteten Straßen transportiert werden. Bis 1,20m Wattiefe ist dies mit dem Unimog problemlos möglich.

Später am Abend dann ein neuer Auftrag für den Rest des Technischen Zuges:
Um die A9 vor Überflutungen zu schützen, sollten Großpumpen aus Holland mit dem  Hubschrauber antransportiert werden.

Zur Bedienung der Pumpen wurde das Schwimmkörpersystem Jet-Float aus dem OV Witten als Bediensteg dazu beordert. Die Aufgabe des OV Wanne-Eickel sollte der Zusammenbau des Systems vor Ort zusammen mit dem OV Witten sein. Einsatzbeginn war zunächst für 22:00 Uhr angekündigt. Später wurde dieser dann jedoch auf 23:00 Uhr verschoben. Die Einsatzbereitschaft wurde hergestellt, Verpflegung für den Einsatz, der die ganze Nacht dauern sollte, wurde gebunkert.

Um 22:30 Uhr fuhr der Verband vom Bereitstellungsraum los. Um 22:35 Uhr kam telefonisch der Einsatzabbruch. Die Bundeswehr hatte für den Antransport des Systems keinen Luftkorridor bekommen. Um 22:40 Uhr waren alle Fahrzeuge wieder im Bereitstellungsraum. Um 23:00 Uhr lagen die Helfer im Bett.

22.08.02, Tag 8. Der Unimog wurde um 07:00 Uhr erneut mit zwei Kraftfahrern nach Waldersee beordert. Darüber hinaus bekam der OV Wanne-Eickel den Auftrag eine feste Überfahrt über die von den Feuerwehren zahlreich verlegten Schläuche in Waldersee zu bauen. Um 07:15 Uhr machte sich der MTW auf den Weg zur Erkundung der Einsatzstelle.
Gegen 08:00, zurück im Bereitschaftsraum, wurde der Materialbedarf ermittelt.

Etwa zu diesem Zeitpunkt meldete sich Ortsbeauftragter Aimo Glaser, der die letzten Tage unter anderem damit verbracht hatte, die Ablösung der Jungs aus Wanne-Eickel zu organisieren, mit der Nachricht, es solle ein Heimreisebefehl für den gesamte OV Wanne-Eickel vorliegen. Der freiwillige Verbleib von 9 Helfern vor Ort sei somit nicht nötig.

08:30 Uhr. Bei der Übergabe der Materialanforderung an die Einsatzleitung kam die Bestätigung. Es ging nach Hause. Für alle. Letzter Auftrag war die Übergabe des Unimog an den OV Oberhausen (B-W), der den OV Wanne-Eickel ablösen sollte, sowie ebenfalls die Übergabe der Einsatzstelle.

Als dies alles erledigt, die Unterkunft geräumt, der OV bei der Einsatzleitung abgemeldet und eine letzte Nahrungsaufnahme erfolgt war, machte sich der OV Wanne-Eickel um 14:20 Uhr auf den Weg in die Heimat.

Unterwegs hielt die Männer ein Fahrzeug der Kolonne in Atem, bei dem sich extremer Leistungsverlust bemerkbar machte. Nach technischem Halt in Bielefeld und Fahrzeugkontrolle wurde entschieden, die Fahrt fortzusetzen.

Gegen 23:00 Uhr kamen dann alle wohlbehalten auf dem Gelände des OV Wanne-Eickel an, wo sie von Aimo Glaser begrüßt wurden. Nach ein paar erläuternden Worten und der Aufstellung zum Gruppenbild konnten dann alle Helfer den Weg zu ihren Familien antreten. Am 23.08.02 um 12:00 Uhr traf sich die Mannschaft auf dem Gelände des Ortsverbandes Wanne-Eickel um die Einsatzbereitschaft wiederherzustellen. Die gesamte Ausstattung wurde überprüft und ggf. repariert. Fahrzeuge und Geräte, die nicht vor Ort repariert werden konnten wurden zur Werkstatt gebracht.
 
Dessau. Die Helfer des Ortsverbandes Wanne-Eickel verbinden mittlerweile eine Menge mit diesem Ort. Die Erinnerung an 8 anstrengende Tage, weg von zu Hause.



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